Das Recht auf Wind in den Haaren
"Mein Ehrenamt gibt mir wahnsinnig viel. Ich muss nicht zaubern, ich kann älteren Menschen ganz leicht eine Freude machen", sagt Ingo Scholtysek mit einem Lächeln. Hier im Caritas-Seniorenzentrum "Kardinal Bengsch" in Charlottenburg holt er heute die beiden Bewohnerinnen Heidi Singer und Waltraud Prey ab, zu einem Ausflug mit der hauseigenen, elektrobetriebenen Fahrrad-Rikscha. Seit drei Jahren engagiert sich Scholtysek ehrenamtlich im Verein "Radeln ohne Alter". Die gemeinnützige Organisation hat es sich zum Ziel gesetzt, älteren Menschen Freude und Mobilität durch Fahrradtouren zu ermöglichen. Bundesweit kooperiert die Vereinigung mit Senioreneinrichtungen, aber auch Städten und Kommunen. In Berlin gibt es insgesamt sieben Standorte. Hier können Freiwillige als so genannte Pilotinnen und Piloten mit ihren Gästen auf der Vorderbank in die Pedale treten. Die Passagier:innen sitzen vorne, weil sich so leichter Gespräche ergeben als in einer herkömmlichen Rikscha. Ein Leitprinzip des Vereins ist es nämlich, den Austausch unterschiedlicher Generationen zu fördern.
Hier im Caritas-Seniorenzentrum in Charlottenburg startete das "Radeln ohne Alter" im Mai 2021, während der Corona-Pandemie, mit einer vom Verein geliehenen Rikscha. Die war jedoch etwas zu schmal, wie sich schnell herausstellte. "Die Bewohner:innen wollten lieber zu zweit auf Tour gehen", erklärt Christine Nawrath, Leiterin des Zentrums. "Wir haben deshalb eine Spendenaktion im Haus gestartet und konnten im Dezember 2021 dann unsere eigene Fahrrad-Rikscha anschaffen." Insgesamt 15 bis 20 Bewohnerinnen und Bewohner sind regelmäßig zu Gast auf einem Ausflug. "Für mich war es besonders schön, den neuen Gleisdreieckpark zu sehen", erzählt die gebürtige Charlottenburgerin Heidi Singer. Die ehemalige Caritas-Mitarbeiterin war insgesamt 18 Jahre lang in der mobilen Altenpflege tätig, bevor sie zur Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft "Kreuzbund" wechselte und Vorstandsmitglied wurde. "Ich kannte den Park nur von dem Blick aus der U-Bahn, weil ich nicht mehr so gut zu Fuß bin. Es ist toll, dass es dieses Angebot gibt."
Vertraute Orte werden wieder erreichbar
Älteren Menschen diese Mobiliät zu ermöglichen und sie an Orte zu bringen, die sie gern besuchen möchten, ist die Gründungsidee, die ursprünglich aus Kopenhagen stammt und im Jahr 2012 ins Leben gerufen wurde. Dorthin zurückzukehren, wo man früher einmal viel Zeit verbracht hat, schafft Lebensqualität. So wie für Waltraud Prey. Die ehemalige Postbank-Mitarbeiterin wohnt erst seit zwei Jahren hier im Seniorenzentrum. Wie Heidi Singer auch, ist sie gebürtige Berlinerin, hat den Zweiten Weltkrieg miterlebt und wohnte später im Hansaviertel. "Ich war früher viel mit meinen Kindern im Tiergarten", erzählt Waltraud Prey, "und bin mit der Fahrradtour erst letztens wieder dort gewesen. Der Fahrer war ganz begeistert, denn er kannte den Tiergarten noch nicht so gut wie ich."
Auch für den Wahl-Berliner Ingo Scholtysek zählte es besonders, einen neuen Input zu bekommen, als er sich für ein Ehrenamt entschied. "Ich war früher Taxifahrer und wollte einmal in der Woche etwas anderes machen, als mich dem Krieg auszusetzen, der auf der Straße herrscht", lacht er. So wurde Scholtysek zuerst Lesepate für Schulkinder. "Das, was du von den Kindern bekommst, dadurch dass du ihnen Aufmerksamkeit schenkst, das sind strahlende Augen und das ist ein offenes, ehrliches Miteinander. Genau das bekomme ich auch hier von den älteren Menschen." Einen Bezug zu der älteren Generation hat er auch, weil er früher ebenfalls in der Pflege tätig war - und sich einmal für einen 101-jährigen Mann, den er kannte, engagieren wollte. Er wollte ihm zu neuer Mobilität verhelfen, so kam er zu "Radeln ohne Alter".
Scholtysek macht deutlich, dass es bei diesem Ehrenamt um einen Austausch und einen Gewinn für alle Altersklassen geht: "Eine Bewohnerin nahm letztens ihre Enkelin mit zu mir auf Tour, die in die vierte Klasse geht. Die Enkelin musste ein Sachkunde-Referat über Berliner Sehenswürdigkeiten wie den Neptunbrunnen am Alexanderplatz und den Gendarmenmarkt vorbereiten. Was mich sehr gefreut hat, ich konnte ihr etwas über das Charlottenburger Schloss mit auf den Weg geben, dass ihr einen Pluspunkt für das Referat gebracht hat. Wussten Sie, dass sich die Goldstatue Fortuna auf dem Schloss in den Wind drehen kann?", fragt der Ehrenamtliche in die Runde. "Ach..?", entfährt es den beiden älteren Damen. "Ja, das Geheimnis ist der goldene Ball, auf dem sie steht. Der ist als Kugellager befestigt", erklärt er stolz.
Die Idee funktioniert weltweit
Ole Kassow heisst der Kopenhagener, der 2012 mit seiner ersten Rikscha-Tour einem älteren Herren etwas Gutes tun wollte. Er hat eine Initiative geschaffen, die sich inzwischen auf der ganzen Welt verbreitet hat. In mehr als 50 Ländern in Europa, Nordamerika, Asien, Australien und Neuseeland sind laut Wikipedia ehrenamtlich engagierte Gruppen unterwegs und "radeln ohne Alter". Ihr Motto lautet: "Es gibt ein Recht auf Wind in den Haaren in jedem Lebensalter." Und auch der Tag heute in Berlin hat gezeigt: Dieses Motto zahlt sich aus, denn dabei geht es um so viel mehr als nur um das Fahrradfahren.