Die vergessenen Kinder
Damian* sitzt die meiste Zeit des Tages vor dem Computer. Der Achtjährige spielt das, was ihm so unterkommt - egal ob altersgerecht oder zugelassen ab 18. Interessiert schließlich keinen. Die großen Brüder haben nichts übrig für das "Weichei". Das lassen sie ihn oft genug spüren. Die alleinerziehende Mutter lässt sie hilflos gewähren. Sofern sie überhaupt etwas mitbekommt, wenn sie antriebslos auf dem Sofa liegt, gefangen von der Sucht nach Alkohol.
Als Damian zum ersten Mal die Gruppe für Kinder von suchtkranken Eltern besucht, lernen Ilka Rhein und Katharina Walzog einen aggressiven Jungen kennen. "Er ist ständig mit Wucht gegen die Matte an der Wand gesprungen oder stand stundenlang vor der Wand", erinnert sich Ilka Rhein. Die Gruppenleiterinnen lassen ihn, laden ihn aber immer wieder ein, am Programm teilzunehmen. "Man muss den Kindern das Gefühl geben, dass sie bestimmen. Das ist eine Formulierungsfrage", erklärt Ilka Rhein ihren Ansatz. Zu Beginn jeder Gruppenstunde setzen sich alle auf den Boden um eine Wetterkarte. Darauf können die Kinder mit Hilfe von Symbolen wie einer Wolke oder Sonne ihre aktuelle Gefühlslage markieren und darüber reden. "Dabei geht es vor allem um aktuelle Themen, um Schule und Mitschüler, die sie vielleicht geärgert haben", erklärt Katharina Walzog. Nach einer kurzen Toberunde steht ein bestimmtes Thema im Mittelpunkt, zum Beispiel welche Alternativen es gibt, außer gleich zu treten. Der feste Ablaufplan ist wichtig, um den Kindern Struktur zu vermitteln. Etwas, das sie von zu Hause nicht kennen.
Zuhause sich selbst überlassen, in der Schule auffällig: Die Geschichte von Damian ist typisch für Kinder, die bei einem suchtkranken Elternteil aufwachsen. "Kinder von Suchkranken sind auffallend oft zurückgezogen, haben wenig Freundschaften, nehmen vor allem niemanden mit nach Hause", sagt die Pädagogin Walzog. Als Lehrer oder Erzieher müsse man manchmal einfach seinem Bauchgefühl folgen, wenn man einen Verdacht habe.
Christina Bustorf im Gespräch mit dem TeamAngela Kröll
Kinder, die in suchtbelasteten Familien aufwachsen, sind einem sechsfach höheren Risiko ausgesetzt, selbst suchtkrank zu werden oder psychische Störungen zu entwickeln. Zuhause erleben sie manchmal Gewalt, Trennungen und Lügen. Die Eltern sind Vorbild, also übernehmen das die Kinder. Um so wichtiger ist ein funktionierendes Hilfesystem. Doch genau das existiere nicht richtig, kritisiert die Leiterin der Suchtberatung Spandau, Martina Treptow. Gemeinsam mit Ilka Rhein und Katharina Walzog versucht sie für das Thema zu sensibilisieren. Das Team schickt Flyer an Schulen und Einrichtungen, hält Fachvorträge und geht in Gremien. Es gehe darum, "immer und immer wieder zu erzählen und zu erklären", sagt Martina Trebtow. "Die betroffenen Familien halten Scham- und Schuldgefühle davon ab, für die Kinder Hilfe in Anspruch zu nehmen und auf Expertenseite fehlt oft die Sensibilität für das Thema", erklärt Martina Trebtow das Dilemma.
Ilka Rhein und Katharina Walzog bekommen das unmittelbar in jeder Gruppenstunde zu spüren: "Für die aktuelle Gruppe sind sechs Kinder angemeldet, es kommen aber nur drei. Und manchmal sitzen wir auch nur mit einem Kind da", berichtet Ilka Rhein. Verlässlichkeit ist ein schwieriges Thema. Doch die Gruppenleiterinnen lassen sich nicht beirren. "Wir wollen unbedingt die Familien entlasten und den Kindern beibringen über Gefühle zu sprechen", betont die Therapeutin. "Dass sie auch zu Hause sagen 'ich finde das doof' oder 'das macht mich traurig'." Kinder hätten ein sehr sensibles Gefühl, was stimmt und was nicht. "Und sie können Sachen unglaublich gut benennen - wenn sie dürfen", so Ilka Rhein.
vl. Katharina Walzog, Martina Treptow, Ilka RheinAngela Kröll
Mit Zeit und Fingerspitzengefühl schaffen es die beiden Frauen immer wieder, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen und ihnen zu vermitteln: "Hier darf ich das erzählen und hier geht es auch anderen so - ich bin damit nicht allein." Seit 2014 existiert das Gruppenangebot für Kinder im Alter von sieben bis elf Jahren und findet immer 14-tägig in den Räumen der katholischen Kindertagesstätte St. Marien statt. Trotz aller Schwierigkeiten ist das Team der Suchtberatung Spandau von dem Angebot überzeugt. "Wir hinterfragen oft, ob wir was falsch machen", sagt Katharina Walzog. Doch es laufe letztlich gut. Mit dem Spandauer Bezirksstadtrat Frank Bewig haben die Frauen einen Verbündeten gefunden, der eine bezirkliche Finanzierung ermöglicht hat. Der Politiker habe zu ihr gesagt, berichtet Ilka Rhein, dass jedes Kind - und wenn es nur eines ist - dem geholfen werden kann, lohne den Einsatz.
Damian springt irgendwann nicht mehr gegen die Matte, sondern setzt sich zu den anderen dazu und erzählt: Von seinen Brüdern, der Schule, der Mutter. "Er hat Vertrauen gefasst, sich wahnsinnig entwickelt und musste letztlich nicht auf eine Sonderschule wechseln, was lange im Raum stand", erinnert sich Ilka Rhein. "Das sind die Erfolge, die motivieren."
Text: Christina Bustorf
*Name geändert