Botschafter für das Leben
Projektleiterin Anna GleinigerAngela Kröll
Julia versucht noch die Bänder an ihrem Turnbeutel kürzer zu knoten. Das ist gar nicht so einfach während des Laufens, aber stehen bleiben würde wertvolle Zeit kosten. Clara hat bereits eine Passantin im Visier: elegant-legerer Look, mittleres Alter, zügiger Schritt.
10.080 Mut machende Botschaften mit Fotos haben sich die jungen Berater und Beraterinnen von [U25] als Ziel ihrer Challenge gesetzt. Eine beachtliche Zahl, die auch die der Suizidtoten aus dem Jahr 2015 entspricht. Die Aktion soll Menschen in Krisen helfen und das Thema Suizid aus der Tabu-Ecke holen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass 8 von 10 Menschen ihren Suizid vorher ankündigen. Daher sei es wichtig, genau hinzuhören und von sich aus auf Menschen zuzugehen, wenn man das Gefühl hat, dass etwas nicht stimmt, sagt die Leiterin des Berliner [U25] Projektes, Anna Gleininger. Die Angst sei weit verbreitet, dass es alles noch schlimmer macht, wenn man darüber spricht. "Das Gegenteil ist der Fall: Ein Gespräch kann Leben retten", betont Anna Gleiniger.
Mit einem charmanten Lächeln stellt sich Clara der Dame in der Dircksenstraße in den Weg, erzählt ihr von der unfassbar hohen Zahl der Suizidtoten, dem heutigen Präventionstag und dem Anliegen, mit Mutmach-Botschaften ein Zeichen zu setzen. Es funktioniert. Die Touristin nimmt sich ohne Zögern den schwarzen Stift und lacht in Claras Smartphone. Warum? "Weil ich die Mädchen sympathisch finde, das eine tolle Aktion ist und die Sonne scheint."
Am Alexanderplatz sprechen Julia und Clara eine Familie an. Es stellt sich heraus, dass sie aus Dänemark kommen. Zusammen mit ihren beiden Mädchen überlegen die Eltern, was sie aufschreiben können. Sie entscheiden sich für "Sommenhold". Julia schreibt noch schnell auf deutsch "Zusammenhalt" dazu und macht das Foto. Es läuft.
"Voll schön sind die Reaktionen", sagt Julia. Die 25-jährige Psychologie-Studentin hat sich vorher nicht viele Gedanken gemacht, wie die Leute reagieren könnten. "Wir haben gestern ein Briefing bekommen, auf welche Reaktionen wir gefasst sein sollten und wie wir damit umgehen können.
Eine Familie aus Dänemark macht spontan bei der Aktion mitAngela Kröll
Aber wir haben uns jetzt keine besondere Strategie überlegt." In Berlin seien es die Menschen gewohnt, ständig angesprochen zu werden, gibt Clara zu bedenken. "Deshalb habe ich schon mit ein wenig mehr Ablehnung gerechnet und betone immer gleich, dass wir kein Geld wollen."
Vom Hackeschen Markt, dem Startpunkt der Aktion, waren die beiden jungen Frauen eigentlich mit drei anderen zusammen Richtung Mauerpark losgezogen. "Die haben wir irgendwie verloren", stellt Clara achselzuckend fest. Die Zwei beschließen, sich einfach weiter durch die Straßen treiben zu lassen. Botschaften lassen sich an diesem sonnigen Tag schließlich überall sammeln. Zum Beispiel von den vier jungen Holländern. "You do a good job", geben sie den beiden noch mit auf den Weg. Das motiviert. Ein verliebtes Paar aus Düsseldorf zögert auch nicht lange. "Klar, warum nicht, das ist ein wichtiges Thema!"
Bei strahlendem Sonnenschein ist auf den Straßen Berlins zwischen Kurfüstendamm und Alexanderplatz von dem Tabu, über Suizid zu sprechen, nicht viel zu spüren.
Im Gegenteil, wie auch bei einem Blick in die IT-Zentrale der Aktion zu sehen ist. In den zwei Büroräumen, in denen sonst die [U25]-Mitarbeiter die Arbeit der Ehrenamtlichen betreuen und koordinieren schwitzen sie heute über den Laptops, um alle hereinkommenden Botschaften bei Instagram und Co hochzuladen. Das Smartphone vor Anna Gleininger auf dem Tisch piept ununterbrochen. "Das geht schon so die ganze Zeit. Wahnsinn. Das sind alles Bilder, die die Peers mir schicken."
Am Nachmittag findet einen ökomenischer Gedenkgottesdienst in der Gedächtniskirche auf dem Breitscheidtplatz statt. Vor dem Eingang stehen Luisa, Doro, Kimi, Niki und Lukas. Die Fünf sind aus Dortmund angereist, um bei der Challange mitzumachen. Genau wie alle anderen Peers betreuen sie sonst ehrenamtlich junge Menschen in Krisen, die sich anonym per Mail an sie wenden. Diese Erfahrung hilft ihnen jetzt vor der Gedächtniskirche. Denn zwischen den fröhlichen Touristen nähern sich Gottesdienstbesucher dem Eingang der Gedächtniskirche.
Beim ökomenischen Gedenkgottesdienst in der Gedächtniskirche nehmen viele Peers freiwillig teilAngela Kröll
Darunter sind viele Menschen, die in ihrem Umfeld jemanden durch Suizid verloren haben. "Die Angehörigen sind uns gegenüber sehr offen", erzählt Doro. "Wir haben eben alle Gänsehaut bekommen, als uns eine Frau ihre persönliche Geschichte erzählt hat und sie dann als Botschaft den Satz aufgeschrieben hat, den sie ihrem nicht mehr lebenden Mann immer gesagt hat." Es ist kein Pflichttermin, aber den Fünf ist klar, sie wollen an dem Gottesdienst teilnehmen. Noch einmal in sich gehen, den Tag bei Gebet und Orgelklängen Revue passieren lassen und dann geht es mit der S-Bahn zurück nach Mitte.
Dort liegen bereits erschöpfte Ehrenamtliche auf der Wiese hinter dem U25-Büro. Sie tauschen sich aus, über ihre Erfahrungen auf den Straßen Berlins. Oben an den Laptops lädt das IT-Team noch immer Fotos hoch. "Es hört nicht auf, aber es ist so schön", resümiert Anna Gleiniger. "Ich bin unglaublich stolz auf unsere Peers!" Am Ende des Tages zählt die genaue Zahl der gemachten Fotos nicht mehr, sondern die Botschaft: Unfassbar viele Menschen aus der ganzen Welt haben gesagt: "Du bist mir wichtig!"
Text: Christina Bustorf
Website mit Online-Beratung für junge Menschen mit Suizidgedanken: