Keine Macht den Schulden
Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Gleichzeitig sind mehr als 6,7 Millionen Bundesbürger überschuldet. Fast jeder zehnte Erwachsene schafft es nicht, seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Wie passt das zusammen? Können die Menschen nicht mehr Geld umgehen?
Frau Buhl: Schulden bedeuten nicht zwangsläufig, dass man nicht mit Geld umgehen kann. Auch sind sie nicht per se verkehrt, sondern oft sogar notwendig. Vieles funktioniert überhaupt nur mit einem Kredit, etwa ein Immobilienkauf oder die Anschaffung eines neuen Autos. Heikel wird es aber immer dann, wenn die Schuldenlast zu groß wird und Verbindlichkeiten nicht mehr bedient werden können. Und das kann schneller gehen, als man meint - gerade wenn die Finanzen ohnehin nur sehr knapp gestrickt sind oder sich die Einkommenssituation plötzlich ändert.
Frau Bünner: Die Schuldenkultur ist salonfähig, sie gehört zur Gesellschaft. Man hat sich nicht nur an einen gewissen Lebensstandard gewöhnt, sondern auch an die Aufnahme von Schulden, um diesen zu ermöglichen. Solange genug Geld da ist, ist das auch kein Problem. Schwierig wird es erst, wenn der Überblick verlorengeht und die Sache aus dem Ruder gerät.
Frau Buhl: Das Einkommen ist ein ganz wesentlicher Aspekt, der gerade im Hinblick auf den Niedriglohnbereich in Berlin nicht zu unterschätzen ist: Wenn Menschen nur sehr wenig verdienen und mitunter auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sind, kommen sie nunmal finanziell nur schwer zurecht. Deutschlandweit ist fast jeder zehnte Erwachsene überschuldet, in Berlin ist es sogar jeder achte. Mit 13 Prozent überschuldeter Haushalte ist die Hauptstadt nicht nur deutlich über dem Bundesdurchschnitt, sondern leider auch ein trauriger Spitzenreiter, also Schlusslicht.
Frau Bünner: Hinzu kommt, dass Berlin bei den Lebenshaltungskosten fast den Standard von Hamburg erreicht, aber es kaum eine entsprechende Anpassung der Löhne und Gehälter gibt. Das darf nicht übersehen werden, wenngleich die Ursachen für Überschuldung so verschieden sein können wie die Menschen selbst. Das gängige Klischee des typischen Konsumschuldners stimmt nach unseren Erfahrungen aber eher selten mit der Realität überein.
Was sind die Hauptauslöser für Überschuldung? Und welche Entwicklungen sind auffällig?
Frau Buhl: Die häufigsten Ursachen sind nach wie vor Arbeitslosigkeit, Krankheit, Trennung, Tod eines Angehörigen, Niedrigeinkommen und unwirtschaftliche Haushaltsführung; also wenn Menschen die Übersicht über ihre Einnahmen, Ausgaben und Schulden verloren haben. Im Grundsatz gilt aber: Überschuldung kann jeden treffen, da es gerade die unvorhersehbaren Schicksalsschläge und Lebensbrüche sind, die Menschen in eine Überschuldung stürzen können.
Frau Bünner: Ganz oft gibt es wirklich einen Knackpunkt in der Biografie, an dem das Leben nicht so läuft, wie man es geplant hat. Dann bricht etwas zusammen, beispielsweise die Partnerschaft. Sie war sonst immer ein wichtiger Halt und nun führt die Trennung dazu, dass die Kontrolle über die eigenen Finanzen entgleitet.
Frau Buhl: Nicht selten werden Menschen auch durch eine Erkrankung völlig aus der Bahn geworfen, ob es nun eine Sucht ist wie Alkohol, Drogen, Glücksspiel oder eine schwere Depression. Oft fällt mehreres zusammen. Selbst etwas eigentlich Positives kann zu einer Überschuldung führen, zum Beispiel die Gründung einer Familie. Wenn ein Kind geboren wird und deshalb plötzlich ein Arbeitseinkommen wegfällt, dann ist das Leben mit dem deutlich geringeren Elterngeld schon eine Umstellung - gerade wenn man feste Verpflichtungen hat und die Verbindlichkeiten vielleicht schon vorher etwas zu eng abgesteckt waren.
Frau Bünner: Für Alleinerziehende ist es sehr schwierig. Künftig wird auch die zunehmende Altersarmut stärker ins Gewicht fallen, wenn in den Generationen, die nicht mehr so gut abgesichert sind, ein Partner früh verstirbt und die Rente dann einfach nicht mehr ausreicht.
Frau Buhl: Allerdings tun sich nach unseren Erfahrungen gerade Senioren mit dem Thema schwer, da sie oft noch eine besondere Hemmschwelle haben, Hilfe in Anspruch zu nehmen - selbst wenn sie eigentlich dringend erforderlich wäre. Man macht sich Gedanken darüber, ob und was man den Nachkommen an Vermögenswerten vererben kann. Von möglichen Schulden-Lasten redet hingegen kaum jemand, obwohl das doch unbedingt geklärt werden sollte - nicht zuletzt im Interesse der Kinder.
Ist Verschuldung also einerseits weit verbreitet, andererseits aber auch ein Tabu-Thema?
Frau Bünner: Ein überzogener Dispokredit - das empfinden viele nicht als Verschuldung; darüber kann man noch sprechen. Sobald jemand aber in die Überschuldung kommt, fällt er ganz schnell aus dem Raster. Dann bricht das soziale Umfeld weg. Er kann es sich nicht mehr leisten, ins Kino oder Theater zu gehen. Das Thema ist immer noch mit sehr viel Scham besetzt.
Frau Buhl: Schon Verschuldung ist ja für manche ein Tabu. Aber für Überschuldung schämen sich die allermeisten wirklich so sehr, dass sie sich total zurückziehen und nicht einmal mit nahen Angehörigen oder engen Freunden darüber sprechen. Sie halten sich völlig bedeckt und versuchen, das Ganze mit sich allein auszumachen. Oft sind sie wir in der Beratung die ersten, mit denen überhaupt einmal offen und vertrauensvoll über diese Sache gesprochen wird.
Welche Folgen hat es, wenn die Schulden immer weiter über den Kopf wachsen und Betroffene weder ein noch aus wissen?
Frau Bünner: Viele fallen in ein tiefes Loch und es wächst das Gefühl, da nicht mehr herauszukommen, obwohl man strampelt und strampelt. Irgendwann folgt eine Vogel-Strauß-Haltung: Man geht auf Tauchstation, zieht sich zurück und gibt sein soziales Umfeld auf, weil man nur noch daran denkt, nicht mehr mithalten zu können. Sie machen total dicht, trauen sich nicht mehr vor die Tür, laden niemanden mehr zu sich nach Hause ein.
Frau Buhl: Die Angst davor, dass die anderen etwas merken könnten, wird immer beherrschender. Es gibt Mütter, die haben Sorge, dass beim Kindergeburtstag der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht.
Frau Bünner: Zugleich sind die Betroffenen wie überrollt von einer Flut von Post. Die Briefe werden oft nicht einmal mehr geöffnet - weil man davon ausgeht, dass es wieder Rechnungen und Forderungen sein werden, die man ohnehin nicht bezahlen kann. Somit wird auch nicht unterschieden: Was ist Inkasso und was ist anderes? Das verschlimmert natürlich die Lage, wenn zum Beispiel auf wichtige Behördenschreiben nicht mehr reagiert wird.
Frau Buhl: Man verliert den Boden unter den Füßen und das bisherige Leben entgleitet Stück für Stück. Das wiederum kann zu einer kompletten Destabilisierung führen - und zu einem ganzen Rattenschwanz neuer Probleme, bis hin zum Wohnungsverlust und psychischen Erkrankungen. Depressionen etwa sind nicht nur häufig ein Auslöser für eine Überschuldung, sondern auch eine Folge. Erst jüngst hat sich eine junge Frau an uns gewendet, die nach einer Trennung in ein richtiges Tief gefallen ist. Sie kümmerte sich über Wochen um gar nichts und hatte überhaupt kein Einkommen mehr. Erst kurz bevor sie die Wohnung räumen musste, hat sie sich doch aufgemacht, um Hilfe zu suchen. Inzwischen ist sie in einem guten Prozess mit Therapie und abgesicherten Wohnverhältnissen. Aber das war kein einfacher, sondern ein weiter Weg.
Frau Bünner: Manche stürzen total ab und fallen von ganz oben nach ganz unten. Einer unserer Klienten hatte ursprünglich einen guten Job und ein sicheres Auskommen. Dann verspielte er aber immer wieder immer mehr Geld im Casino. Er machte Schulden über Schulden und es kam eines zum anderen: Die Frau trennte sich und plötzlich stand er ohne alles da, sogar ohne Wohnung. Früher hätte er sicher nicht gedacht, dass er einmal so sehr abrutschen würde. Auf dem derzeitigen Wohnungsmarkt in Berlin ist es bereits für Normalverdiener ohne Schulden schwierig, eine neue, bezahlbare Wohnung zu finden. Mit Mietschulden und negativem Schufa-Eintrag ist das fast unmöglich. Deshalb ist es bei allen anderen Forderungen immer das Wichtigste, die Wohnung zu halten.
Wie schwierig ist es, einen Ausweg aus der Überschuldung zu finden, und welche Hilfe kann die Schuldnerberatung geben?
Frau Buhl: Entscheidend ist, dass man sich dazu entschließt, an der eigenen Lage, so aussichtslos sie auch erscheinen mag, etwas zu ändern und Unterstützung zu suchen.
Frau Bünner: Oft wartet man ab und hofft eigentlich viel zu lang, das Schuldenproblem noch irgendwie allein wieder in den Griff zu bekommen. Wenn wir dann aber gemeinsam die Unterlagen unter die Lupe nehmen, wird zumeist recht schnell klar, dass die Schulden immer nur mehr geworden sind.
Frau Buhl: Der Betroffene schaut natürlich, was er selbst noch irgendwie managen kann. Er fängt an, Löcher zu stopfen und zu jonglieren. Bezahlt wird das, was ihm persönlich am dringlichsten erscheint, zum Beispiel die Handykosten. Dabei sind Miete, Gas und Strom am wichtigsten. Oft werden diejenigen Gläubiger, die am meisten Druck machen, noch einigermaßen bedient - und bei den anderen sammelt sich ein Berg nicht nachgekommener Verbindlichkeiten an.
Frau Bünner: Manche versuchen, sich noch mit weiteren Kredit-Aufstockungen und Geldleihen etwas Luft zu verschaffen. Aber wenn man die Situation genau anschaut, merkt man schnell, dass die Person eigentlich schon dermaßen überschuldet ist, dass sie die Raten gar nicht mehr aufbringen kann.
Frau Buhl: Der erste Schritt in der Schuldnerberatung ist, sich einen Überblick zu verschaffen: Wie groß ist der Schuldenberg wirklich, welche Forderungen gibt es, welche Einnahmen und Ausgaben.
Wir prüfen, ob bereits alle Einkommensarten geltend gemacht wurden oder ob eventuell noch Kapital oder anderes Vermögen vorhanden ist, das eingesetzt werden kann. Auch ein Haushaltsplan und die Budgetplanung sind als Instrumente sehr hilfreich, um etwaige Einsparmöglichkeiten auszumachen.
Frau Bünner: Häufig entdecken wir dann Verträge, Abonnements oder auch eine Zusatz-Versicherungen, die der Betroffene gar nicht mehr auf dem Schirm hatte und in seiner Lage eigentlich verzichtbar sind.
Frau Buhl: Oft braucht es aber eine grundsätzliche Regulierungsstrategie, einen Vergleich mit Gläubigern, eine private Verbraucherinsolvenz. Zugleich müssen viele Betroffenen lernen, mit den Schulden zu leben.
Frau Bünner: Für 18-25-Jährige bietet die Jugendschuldnerberatung einen gesonderten Zugang. Da geht es nicht nur um Handy-Schulden oder Schwarzfahren. Die Unterhaltung der ersten eigenen Wohnung wächst schnell über den Kopf, und mancher hat einfach nicht auf dem Schirm, was am Ende auf ihn zukommt, wenn er hier einen Vertrag abschließt und dort noch einen. Gerde jungen Erwachsenen geht häufig ein Licht auf, wenn sich im Leben etwas ändert. Vielleicht werden sie das erste Mal Mutter oder Vater und denken sich dann, dass sie ihre Finanzen endlich mal auf die Reihe bringen müssen. Das ist oft der Moment, an dem sie Klarheit wollen. Sie möchten durchstarten und das, was sie vielleicht noch aus der Vergangenheit mit sich schleppen, endlich loswerden.
Worauf kommt es aus Ihrer Sicht an? Welchen Ansatz verfolgen Sie in der Beratung?
Frau Buhl: Entscheidend ist, dass die Schulden nicht den Menschen beherrschen, sondern der Mensch die Schulden beherrscht. In unserer Beratung arbeiten wir nicht für die Klienten, sondern suchen mit ihnen gemeinsam nach Lösungen. Jeder muss nachvollziehen können, was passiert, und so viel Eigen-Verantwortung wie möglich übernehmen. Wenn der Überschuldete lernt, die Dinge wieder in die eigenen Hände zu nehmen, dann kommt es nicht mehr so sehr darauf an, welche Wege am Ende eingeschlagen werden, ob ein Vergleich mit Gläubigern oder eine Verbraucherinsolvenz etwa. Das Wichtigste ist, einen guten Umgang mit den Schulden finden.
Frau Bünner: Am Anfang bringen viele noch einen ganzen Stapel ungeöffneter Briefe. Die Post wird als sehr bedrohlich wahrgenommen, und die Angst davor blockiert. Erst wenn man weiß, wie die Schreiben richtig einzuordnen sind und darüber entscheiden kann, wie mit ihnen zu verfahren ist, gewinnt man die Kontrolle zurück. Ein Schuldenberg löst sich dadurch zwar nicht von heute auf morgen in Luft auf. Aber die Last der Schulden ist dann eine andere.
Schulden machen - das geht zumeist einfacher und schneller, als sie wieder loszuwerden. Was ist nach Ihrer Erfahrung wichtig, damit man gar nicht erst in eine Schuldenfalle gerät?
Frau Buhl: Verträge gut und sehr genau lesen - auch das Kleingedruckte in Schriftgröße 5 - und versuchen, die Konsequenzen zu verstehen. Das ist das A und O - und sollte auch immer in der Präventionsarbeit betont werden, insbesondere wenn es um die Finanzkompetenz von Jugendlichen geht.
Frau Bünner: Sich über die eigenen Einnahmen und Ausgaben bewusst sein; den Haushalt wirklich einmal durchrechnen und ehrlich zu sich selbst sein. Denn wer auf Dauer mehr ausgibt, als er einnimmt, ist leicht mit einem Bein in der Schuldenfalle. Und eines sollte allen klar sein: Schulden abstottern ist sehr viel anstrengender als eine Diät. Die Pfunde bekommt man ganz leicht drauf. Aber um sie wieder runterzubekommen, braucht es jede Menge eisernen Willen und zumeist einen sehr langen Atem.
Das Interview wurde anlässlich des 3. Berliner Fachtags "SCHULDEN MACHEN KRANKheit macht Schulden" im Juni 2016 geführt. Die Fragen stellte Christian Soyke.