CHORIN. "Ihr seid doch bescheuert!", diesen Kommentar hört ein Erzieher eines der vier "Orte zum Leben" zum engagierten Konzept seines Hauses. Dem Bonifatiuswerk der Deutschen Katholiken sind die "Orte zum Leben" 20000 Euro Unterstützung wert. Alle vier Einrichtungen liegen im Land Brandenburg, und selber charakterisieren die vier Häuser ihr Angebot griffig mit dem Claim "Intensivpädagogik und Therapie für junge Menschen". Einen langen Tag lang war ich unterwegs und durfte mir die vier Häuser ansehen und mit den "innewohnenden" Erzieherinnen und Erziehern, wie die in den Häusern bei den Jugendlichen wohnenden Kolleginnen und Kollegen im Sozialarbeiter-Slang heißen, sprechen. Wenn es Angebote dieser Art nicht gäbe, man müsste sie flugs neu erfinden, was Sozial- und Jugend-Politiker in Berlin sicher nicht unterschreiben würden, weil mit Sicherheit "viel zu teuer" (vgl. den Beitrag "Die Früchte der Berliner Politik...") Aber wer sonst könnte Simone (der Name ist selbstverständlich geändert), 17 Jahre, seit dreieinhalb Jahren in einer der vier Einrichtungen, bereits in verschiedenen Kinderheimen gewesen, durch den Adoptivvater misshandelt, erhebliche Alkoholprobleme, neigt zu häufigen heftigen gewalttätigen Ausbrüchen, wieder eine ihr angemessene Lebensperspektive vermitteln, wenn nicht die ausgesprochenen Fachleute der "Orte zum Leben"? Oder Eric, 15 Jahre, seit 5 Jahren in der Obhut der Caritas, der als Säugling fast verhungert wäre, der durch seine Stiefmutter totale Ablehnung erfährt, mehrere Psychiatrieaufenthalte hinter sich hat. Mir wurde bei meinen Besuchen und Gesprächen deutlich, welch menschlich kompetente und fachlich fundierte Arbeit notwendig ist, um einen Jugendlichen über seine verschlungenen Lebenswege zu sich selbst zu führen, ihm Selbstwertgefühl zu vermitteln und mit ihm soziales Verhalten zu trainieren.
In der landschaftlich reizvollen Mark Brandenburg, umgeben von Seen und Wäldern der Schorfheide und des Naturparks Unteres Odertal, hat der Caritasverband für Kinder und Jugendliche die "Orte zum Leben" geschaffen, vier ganz unterschiedlich gestaltete Häuser mit unterschiedlichen Konzepten. In der Tradition des Heilpädagogischen Kinder- und Jugendheimes "St.Hedwig" in Schwedt entwickelte der Verband neue Konzepte, die sich am Bedarf heutiger Kinder- und Jugendhilfe orientieren. Hier leben Erzieherinnen und Erzieher zum Teil mit ihren Familien und jeweils fünf oder sechs jungen Menschen im Alter von 3 bis 18 Jahren zusammen. Die Kinder und Jugendlichen werden umfassend und individuell von speziell ausgebildeten Erziehern, Heil- und Sozialpädagogen betreut. Sie müssen erst wieder lernen, ihrem Leben eine Struktur zu geben, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Aber sie werden auch in den Arm genommen, sie müssen je nach Alter auch mal kuscheln kommen können. Sie müssen für sich eine Welt entdecken, die ihnen bislang verschlossen war. Ärzte, Psycho- und Ergotherapeuten unterstützen die Fachkräfte. Jedem Jugendlichen wird ein ganz ihm entsprechendes Schulangebot gemacht, das unter Umständen mit ein paar Stunden in der Woche im eigenen Haus, nicht mal in der Schule oder einer Schulklasse, beginnt und dann hoffentlich zu einem Regelschulbesuch wird. Sport ist wichtig, um den eigenen Körper zu spüren und zu trainieren, aber auch um Sozialverhalten und Selbstbewusstsein der Kinder und Jugendlichen zu stärken.
Der Jugendbauernhof Biesenbrow hat es mir bei meinem Besuch natürlich am meisten angetan. Land, soweit das Auge reicht. Biosphärenreservat Schofheide-Chorin. Das nächste Gehöft ist sicher anderthalb Kilometer weit weg. Im Frühling war es ja wunderschön dort. Aber wie ist es hier im Winter, wenn der Wind den Schnee über das Land treibt? Hier fanden die Jugendlichen in der Pionierphase ein verfallenes Gehöft, das sie in harter Arbeit (!) zusammen (!) aufgebaut und wohnlich gemacht haben. Das gehört zum Besonderen dieses "Ortes zum Leben": zusammen leben, zusammen arbeiten, zusammen lernen, füreinander Verantwortung tragen, weit weg von entwicklungsschädigenden Einflüssen. Sie brauchen strukturierte Tagesabläufe. Etwas für junge Menschen mit sozialen Anpassungsstörungen, die Schule verweigern, mit Beeinträchtigungen beim Lernen, in der Kommunikation, in der Psychomotorik.
Im Sonnenhügel Passow, in einem Dorf der Uckermark, umgeben von den Wiesen des Welsebruchs fand ich eine große Familie. Hier sind es nur zehn Minuten zur Grund- und Hauptschule und auch nicht weit zu Sport- und Reitvereinen. Das Haus ist im Dorf gut bekannt und anerkannt. Was auch nicht von selber kommt. Kontaktpflege und Offenheit müssen praktiziert werden.
Das Haus am Oderberger See hat wieder sein ganz eigenes Gepräge. Schulen, Sportvereine, Technisches Hilfswerk, Freiwillige Feuerwehr sind nicht so ganz in der Nähe. Es muss geplant werden. Der Tag braucht eine individuelle Strukturierung, um alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Viele Sport- und Freizeitmöglichkeiten sind im Haus und im großen Garten mit Bootssteg möglich: Angeln, Wandern, Radfahren, Kanu fahren, Fußball spielen. Etwas Fortgeschrittenere können eine selbstständige Lebensführung mit der Möglichkeit von Betreutem Einzelwohnen in einer separaten Wohnung im Haus trainieren.
Das Jugendlandhaus Chorin liegt kaum fünfzig Meter vom Bahnhof mit direkter Anbindung an Eberswalde, Berlin, Angermünde, Pasewalk und Stralsund entfernt. Es ist das alte Bahnhofshotel und -restaurant, das zum "Ort zum Leben" umgebaut wurde. Die Nähe zum Bahnhof und die Einbettung in die dörfliche Gemeinschaft Chorins gehören zum Charakteristikum des Hauses. Die Vermittlung und Begleitung bei der Berufsvorbereitung und Berufsausbildung stehen hier im Vordergrund.
Joachim Mordeja
Weitere Informationen: Frau Plett (0 333 66) 53 00 70