Editorial
Möglicherweise haben wir uns schon an die paradoxe Situation gewöhnt: Wirtschaft und Export boomen, Arbeitslosigkeit sinkt und die Armut im Land ist gewachsen. Bemühungen, die Schere zwischen Armut und Reichtum zu schließen? Fehlanzeige. Ganz im Gegenteil setzt die Politik immer ungenierter alles daran, sie weiter zu spreizen.
Kindergeld, Elterngeld, Betreuungsgeld und Zuschuss zur privaten Pflegezusatzversicherung sind nach dem gleichen Muster gestrickt und Beispiele dafür, dass zunehmend nicht die Bedürftigen gefördert werden. Stattdessen werden weiter Schulden für künftige Generationen angehäuft, um vor allem die zu bescheren, denen es ohnehin gut geht.
Durch den steuerlichen Vorteil bekommt der Millionär mehr Kindergeld als der Normalverdiener und die Hartz-IV-Familie gar keins. Egal wie hoch das Einkommen ist, wird das Elterngeld gezahlt und so soll es auch beim Betreuungsgeld und Versicherungszuschuss sein. Auch hier geht die von Arbeitslosengeld II lebende Familie leer aus. Alles wird angerechnet, eine Pflegezusatzversicherung kann sie sich sowieso nicht leisten.
Besonders ungerecht wird diese Systematik bei der immer weiter wachsenden Gruppe der Geringverdiener, die trotz Arbeit ergänzend Sozialleistungen beziehen müssen, um über die Runden zu kommen. Auch hier wird alles angerechnet. Aber nicht zuletzt ihre niedrigen Löhne und prekären Arbeitsverhältnisse ermöglichen den wachsenden Reichtum auf der anderen Seite.
Insbesondere Elterngeld und Betreuungsgeld führen auch in anderer Hinsicht zu einer Schieflage. Sie sollen einen Schonraum bieten und die Erziehungsleistung wertschätzen. Braucht die ALG-II-Familie den weniger und ist ihre Erziehung weniger wert? Wenig überraschend dass arme Eltern zunehmend das Gefühl haben, dass ihre Kinder nicht gewollt sind. Nachzulesen im Bericht auf Seite ? über eine Umfrage der Schwangererschaftsberatungsstellen zur Anrechung des Elterngeldes.
Artikel 3 des Grundgesetzes fordert, dass niemand unter anderem wegen seines Glaubens, seiner Sprache oder Herkunft benachteiligt werden darf. Da wäre inzwischen eine Ergänzung notwendig: "Wegen seines Einkommens".
Heinz-Josef Kessmann
Diözesancaritasdirektor