Das Boomerang-Prinzip
"Ich sehe mich als jemanden, der die Brücke baut. Die Brücke zwischen Menschen und Behörden", sagt Aleksander Latypov schnell- genauso schnell wie sein Schritt ist. Das hat einen guten Grund: "Zeitmanagement ist alles in meinem Job." Der 35-Jährige ist Integrationslotse bei der Caritas in Berlin-Marzahn und hilft ankommenden sowie schon länger hier lebenden Migranten dabei, sich zurechtzufinden, im neuen Land, in der neuen Stadt und in der neuen Bürokratie mit all ihren Regeln. Ein Job auf dem Sprung, das merkt man sofort. Aleksander begleitet bis zu sieben Menschen täglich bei Behördengängen, zu Arztbesuchen oder er geht in Flüchtlingsunterkünfte, um den Bewohnern ein offenes Ohr zu schenken und sie zu motivieren.
Der Tag hat für Aleksander heute um 8:15 Uhr begonnen, erste Station ist die Malteser Migranten Medizin in Wilmersdorf. Eine junge Frau aus Moldau steht mit ihren zwei kleinen Töchtern und ihrer Mutter in der Schlange auf dem Flur. Der Grund, warum sie hier ist: Ihre Zweijährige ist den Papieren nach staatenlos, eine medizinische Versorgung kann bei einem regulären Kinderarzt deshalb nicht stattfinden. Die junge Mutter kramt nach Papieren und zeigt sie Aleksander, ihre kurzen Absprachen klingen vertraut. Als klar ist, dass die nötigen Unterlagen vollständig sind, entscheidet Aleksander, weiter zum nächsten Termin zu fahren.
Es geht mit der S-Bahn nach Marzahn-Hellersdorf, dort, wo Aleksander lebt und arbeitet, "erinnert mich an meine Heimatstadt Ufa in Russland", sagt er. In seiner Stimme schwingt mit: Auch für ihn war es nicht einfach, in Deutschland Fuß zu fassen. Stationen wie Aachen, Kassel und Brandenburg lagen dazwischen, bevor sich der Rechtswissenschaftler hier in Marzahn mit seiner Frau niedergelassen hat - das Paar hat zwei Söhne, acht und drei Jahre alt. Für Menschen engagiert habe sich Aleksander aber schon immer, vor seinem bezahlten Job ehrenamtlich - so wurde er im Kiez recht bekannt und kam für die Festanstellung als Integrationslotse schnell ins Gespräch. "Das gibt einem einfach etwas, anderen zu helfen. Es ist, wie einen Boomerang zu werfen: Du bekommst genau das zurück, was du anderen gibst."
Im Bürgeramt trifft Aleksander auf Natascha (Name geändert), eine blonde junge Frau, die hier auf ein polizeiliches Führungszeugnis wartet, damit sie ihren Job als Krankenpflegehelferin antreten kann. Seit einem Jahr begleitet Aleksander die Russin aus Joschkar-Ola nun schon. "Natascha hat einen kleinen Sohn, aber auch das hat an dem Hin und Her mit den Behörden nichts verändert - ihre Aufenthaltsgenehmigung wurde immer wieder nur knapp verlängert, weil ihre in Spanien geschlossene Ehe in Deutschland nicht vollständig anerkannt wurde." Als die beiden an der Reihe sind, zückt Aleksander einen gelben Ausweis, der ihn als Integrationslotse identifizierbar macht. "Das mögen die hier", lächelt er. Er ist sichtlich erleichtert, dass Natascha nun aus dem Gröbsten raus ist.
"Die persönlichen Geschichten meiner Klienten nehmen mich mit, das muss ich zugeben. Als ich am 1. Juli 2015 als Lotse angefangen habe, kamen jeden Tag mehrere hundert, manchmal an einem Tag tausend Flüchtlinge in Berlin an. Vor Anspannung haben mir durchgängig die Hände gezittert", sagt Aleksander.
Zu diesem Zeitpunkt hat er nur eine Kollegin und ist mir ihr zusammen ausschließlich für Flüchtlinge da. Eine Besonderheit, denn alle anderen Caritas-Lotsen kümmern sich zu der Zeit nur um Menschen mit Migrationshintergrund, für die Flüchtlinge sind sie (noch) nicht zuständig. Im Sommer 2015 sind Aleksander und Najah vom Chaos am Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) deshalb im Gegensatz zu anderen direkt betroffen. Aleksander erzählt, wie er innerhalb kürzester Zeit Rollstühle organisiert hat, Kleiderspenden in großen Mengen verteilte oder seine Bohrmaschine mal hier, mal dort ausborgte, um die Notunterkünfte zu unterstützen.
Aleksander und Najah möchten uns eine Turnhalle zeigen, in der auch zehn Monate nach der Ankunftswelle noch Menschen in provisorischen, unzumutbaren Umständen leben. Die Atmosphäre in der Halle ist trostlos - Hochbett an Hochbett hat jeder Laken und Bettwäsche um den eigenen winzigen privaten Bereich gespannt. In der Mitte des Raums steht eine Bierbankgarnitur mit etwas Spielzeug darum verteilt - offensichtlich der provisorische Kinderbereich, der dem ganzen Bild noch mehr Tristesse verleiht.
"Viele Flüchtlinge wollen Security-Mitarbeiter werden, sie bewundern es, wie die Securitys in ihren Unterkünften Macht und Stärke ausstrahlen. Ich sage ihnen dann, dass es viele andere gute Berufe gibt und sie sich unbedingt ausprobieren sollten. Der erste Schritt ist es, einen Deutschkurs zu machen." Das klingt pragmatisch, doch Aleksander fügt hinzu, dass es ganz und gar nicht einfach für die Geflüchteten sei, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Manchmal dauere es jahrelang, bis die Menschen eine echte berufliche Perspektive bei uns hätten. So lange untätig zu warten, sei für die meisten das Schlimmste.
Aleksander schaut auf sein Handy und ist schon auf dem Sprung zum nächsten Klienten. "Es fällt mir immer noch schwer, Termine abzusagen, weil ich ja weiß, dass die Menschen mich brauchen. Manche Klienten sind traurig, wenn der Kontakt abbricht. Aber das heißt ja eigentlich etwas Gutes, nämlich, dass sie angekommen sind." Das Ankommen möglichst schnell zu erleichtern, so fasst Aleksander Latypov seinen Job zusammen. Auf seine Schnelligkeit kann man sich verlassen - und auf sein Boomerang-Prinzip.