"Caritas ist einfach nicht so in den Köpfen", hat Rita Kampe in ihrem Alltag festgestellt. Sie arbeitet bei der Allgemeinen Sozialberatung Mitte und ist mit zehn Wochenstunden zusätzlich für das Projekt "Caritas rund um den Kirchturm" tätig. Ihr Wirkungsfeld ist das rund um St. Paulus, dem ersten pastoralen Raum des Erzbistums Berlin. Als Mitglied im Unterausschuss "caritative Dienste" erfährt sie hautnah, wo es im Prozess vorwärts geht und wo es hakt.
Sich kennenlernen, den anderen sich bewusst machen, sich Gedanken machen, wie die Fähigkeiten des anderen genutzt werden können - auch auf Caritas-Seite müsse ein Umdenken stattfinden, räumt Rita Kampe ein. Mit ihren Kollegen hat sie beispielsweise den Gemeindepfarrer gebeten, die Caritas-Büros zu segnen. Mitarbeiter-Andachten wie in der Geschäftsstelle seien zwar noch nicht angedacht, aber auch eine weitere Möglichkeit.
Wie "Kirche mitten unter den Menschen" funktionieren kann, dafür sollte der Fachtag in der KHSB Impulse und Praxisbeispiele geben. So hofften Rita Kampe und die übrigen rund 70 Teilnehmer auf neue Denkanstöße. Die bekamen sie unter anderem von Professor Stefan Bestmann, Dozent an der KHSB. Sich selbst zurücknehmen, abwarten und sich mit seiner Kompetenz zur Verfügung stellen entspreche nicht dem verbreiteten Wirkungsverständnis der Caritas-Mitarbeitender. Doch gerade das sollten sie tun, sagte Professor Bestmann. Denn nicht der Experte ändere, sondern der Mensch selbst, wenn er erkenne, dass es ihm als besser erscheine. Die Aufgabe von Caritas und Pastoral sei das Ermöglichen. Mit einem Zitat von Papst Franziskus untermauerte Bestmann seinen Standpunkt: "Wenn man von sozialen Problemen spricht, ist es eine Sache, sich zusammenzusetzen, um das Problem der Droge in einem armseligen Haus zu studieren. Eine andere Sache ist es, dorthin zu gehen, dort zu leben, das Problem von innen zu sehen und es zu studieren."
Dr. Martin Schneider von der Ludwig-Maximilians-Universität München beleuchtete in seinem Vortrag vor allem das Raumverständnis. Er sprach von "Containerräumen", die in der Soziologie als abgeschlossene, statische Räume verstanden werden und von sogenannten "relationalen Räumen" als Beziehungsräume. Mit seiner Forderung, die "Container" zu verlassen, zielte er darauf, das Denken von engen Grenzen aufzugeben. Die Kirche müsse an geografische wie soziale Grenzen gehen, auch dahin, wo es wehtut. Auch er zitierte den Pontifex: "Wenn die Kirche nicht aus sich selbst herausgeht, um das Evangelium zu verkünden, kreist sie um sich selbst. Dann wird sie krank." Caritas müsse sich politischen Auseinandersetzungen und Fragen stellen, strukturelle Fragen im Blick haben und sich als Caritas in politische Kämpfe mit einbringen, betonte Schneider. Netzwerken, einander vertrauen und auf Augenhöhe agieren sieht der Dozent ebenso als wichtige Bausteine für ein erfolgreiches Wirken im Sozialraum. Schneider formulierte den Ansatz: "Ich habe noch keine Definition von dem, was falsch ist, sondern lasse Vielfalt und Lebendigkeit in der Entwicklung zu."
Fachtag-Besucher Pater Kalle Lenz SAC aus der Gemeinde St. Christophorus in Neukölln hat für sich bereits einen Weg gefunden, engstirniges Denken zu verhindern. Er vermeide mittlerweile die Begriffe "Gemeinde" und "Kirche". "Das ergibt gleich einen Tunnelblick. Ich spreche nur noch vom 'Reich Gottes'."
Mit Blick auf die Praxis fragte Caritas-Direktorin Ulrike Kostka ins Plenum, wie sich "tüfteln" und "Chaos zulassen" in den Arbeitsalltag integrieren ließen. Professor Bestmann verwies auf Forschungsabteilungen großer Unternehmen, die Freiräume lassen und so die normale Arbeit nicht beinträchtigen. "Oder nehmen Sie die Jugendkirche. Die ist frei von der Gemeinde und die Jugendlichen dürfen diesen Freiraum gestalten, wie sie möchten."
Noch mehr Beispiele aus der Praxis konnten die Teilnehmer in verschiedenen Workshops kennenlernen: Vorgestellt wurden Projekte aus dem Erzbistum Berlin, aber auch aus dem Raum Frankfurt am Main. "Dort machen die das schon richtig gut", sagte Benedikt Zimmermann vom Projektbüro "Caritas rund um den Kirchturm".
Auch ein Blick auf Entwicklungsmöglichkeiten auf dem Land konnten die Teilnehmer werfen. Das interessierte Martina Steinfurth. Sie ist mit Kollegen aus Stralsund angereist, wo sie für die Caritas im Regionalzentrum arbeitet. Viel Neues habe sie nicht gehört, fand aber den Ansatz spannend, den Blick auf Vorhandenes neu zu werfen und sein Verständnis von Kirche zu überdenken. "Ich kann mir schon vorstellen, einfach mal ein freies Gebet miteinzubringen. Es kommt halt darauf an, wie man es macht."
Das Fazit der Veranstaltung brachten zwei Teilnehmer des Schlussplenums auf den Punkt. "Es braucht viel Zeit, um Sozialraumorientierung umzusetzen und den anderen Blickwinkel, sich zurücklehnen zu müssen, zu beobachten, zu sehen, was los ist, zu unterstützen", resümierte die Sozialarbeiterin vom Sozialdienst katholischer Frauen, Andrea Keil. Christian Thomes, beim Berliner Caritasverband verantwortlich für Gesundheits- und Sozialpolitik, betonte: "Wir sind Unterstützer und Ermöglicher von Räumen, wir sind nicht die Container." Und: "Verantwortung und Geld zur Gestaltung müssen vor Ort sein."
Die Resonanz der Fachtag-Besucher war überwiegend positiv. Es gab aber auch kritische Stimmen. So bemängelte der geistliche Berater und Gemeindebegleiter Christopher Maass, dass bisher die Freiräume fehlen würden und es ein Umdenken auf Leitungsebene des Erzbistums brauche, um Ressourcen und Mittel frei zu geben, dennoch habe er sich über die vielen Kontakte auf dieser Veranstaltung gefreut. "Ich nenne mich selbst ein ständiger Vernetzer und freue mich hier so viele bekannte Gesichter zu treffen und neue Bekanntschaften zu machen."
Pater Albert Krottenthaler SDB aus Marzahn haben die Vorträge "fast erschlagen". Nun gelte es zu sondieren. "Die Veranstaltung ist eine Stärkung und Horizonterweiterung, aber im Detail weiß ich noch nicht, was das für die Praxis bewirkt." Er nehme viel Energie mit, weiterzumachen auf der Entdeckungsreise. "Es tut gut, voneinander zu hören und zu unterstützen."
Und auch Rita Kampe geht gestärkt in ihren pastoralen Raum zurück: "Es hilft zu erkennen: Wir können das gemeinsam schaffen."