Pressemitteilung des Diözesan-Caritasverbandes Berlin, 28.06.2000 |
Otto-Suhr-Institut und Wohlfahrtsverbände machen mobil gegen "verdeckte Armut" |
"Fehlt Ihnen etwas?" |
BERLIN. Mit einer Anzeigenkampagne unter dem Motto "Fehlt Ihnen etwas?" machen ein Projektkurs des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität Berlin zusammen mit Caritas, Diakonie und Paritätern mobil gegen "verdeckte Armut" in Berlin. Verdeckt arm sind nach Auskunft der Initiatoren jene Personen zu nennen, die zwar einen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe haben, diesen Anspruch aber nicht wahrnehmen. Nach einer wissenschaftlichen Untersuchungen des Frankfurter Instituts für Sozialberichterstattung und Lebenslagenforschung ist davon auszugehen, dass in der Bundesrepublik auf 100 Sozialhilfeempfänger rund 110 Personen kommen, die ihre Rechtsansprüche auf Sozialhilfe aus Scham, Angst vor dem Sozialamt und Unwissenheit über ihre Rechte nicht wahrnehmen. Nach Auffassung des Projektkurses und der Wohlfahrtsverbände ein brisantes soziales Problem. Durch die von der Agentur Mesch Media Direct gestaltete Informationskampagne will die Arbeitsgruppe durch Zeitungsanzeigen, Radiospots und durch Plakate in U-Bahnen auf Sozialhilfeansprüche hinweisen und den Betroffenen Mut machen, zum Sozialamt zu gehen und auf jeden Fall ihre Ansprüche prüfen zu lassen. Im Rahmen der Kampagne stellen sich die Beratungsstellen der Freien Wohlfahrtspflege zur Verfügung, um Unterstützung im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Sozialhilfe zu leisten. Dazu ist ab 3. Juli von Montag bis Freitag zwischen 10 und 12 Uhr eine Hotline unter der Nummer (0 30) 79 70 08 79 geschaltet. Sie tragen nach eigenem Bekunden dazu bei, die fehlenden Beratungskapazitäten in den Ämtern – zumindest teilweise zu kompensieren. Um Sozialhilfe zu erhalten, ist jedoch der Gang zum Sozialamt unabdingbar. Die Arbeitsgruppe "verdeckte Armut" entstand im Rahmen des Projektkurses "Thematisierungs- und Dethematisierungszyklen gesellschaftsverändernder Politik", der unter Leitung von Professor Peter Grottian am Otto-Suhr-Institut der FU durchgeführt wurde. Das Ziel der Arbeitsgruppe war es zunächst, zu untersuchen, inwieweit das Problem in der Öffentlichkeit thematisiert wird und welche "Hürden" dem Thema auf dem Weg in die Schlagzeilen und auf die politische Agenda im Wege stehen. Über das Problem lässt sich nur schwer hinwegsehen. Allein in Berlin gibt es schätzungsweise rund 300.000 "verdeckt arme" Personen. Das Problem der "verdeckten Armut" wird laut nach den Untersuchungen der Arbeitsgruppe von keiner politischen Partei geleugnet. Dennoch hat es bisher keinen für die Initiatoren erkennbaren Versuch der öffentlichen Hand gegeben, dieses Problem in den Griff zu bekommen und den Betroffenen nachhaltig zu helfen. Dabei wurde die Sozialhilfe in den 60er Jahren eingeführt, um laut Bundessozialhilfegesetz den Menschen "die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen und die Führung eines menschenwürdigen Lebens zu sichern". Sozialhilfe ist als Beitrag zur Selbsthilfe zu verstehen, dass nämlich den Betroffenen durch finanzielle Unterstützung oder durch Hilfe zur Arbeit dabei geholfen wird, sich aus ihrer Notlage selber zu befreien.
Die Debatte über Armut und Sozialhilfe wurde in den letzten Jahren zunehmend unter dem Aspekt der Einsparungen und des Sozialbetrugs betrachtet. Dabei ist es offensichtlich, dass das Problem der "verdeckten Armut", für manches Sozialamt weniger gravierend ist als so genannter Sozialmissbrauch. So verkündete ein Mitarbeiter des Reinickendorfer Sozialamts unlängst stolz, dass durch "Sozialdetektive" ein Anteil an Sozialhilfebetrügern ausgemacht werden konnte, der zwei Prozent aller Sozialhilfeempfänger in dem Bezirk ausmachte. Dadurch seien dem Sozialamt Einsparungen ermöglicht worden. Die Tatsache, dass auch in Reinickendorf aller Wahrscheinlichkeit nach jeder zweite Anspruchsberechtigte sein Recht auf Sozialhilfe nicht wahrnimmt, wurde dabei nicht erwähnt. Auch nicht, dass dadurch den Bezirksämtern auf Kosten der Bedürftigen Ausgaben in Millionenhöhe unberechtigter Weise erspart bleiben. Ein Blick in die Statistik besagt: Der Anteil der Sozialhilfeempfänger, die Missbrauch betreiben, also Leistungen in Anspruch nehmen, obwohl sie dazu nicht berechtigt sind, macht 7,4 Prozent innerhalb der gesamten Gruppe und 0,2 Prozent innerhalb der Gesamtbevölkerung aus. Der wirtschaftliche Schaden für die Kommunen liegt bei etwa 283 Millionen DM, das sind 2 Prozent des Gesamtaufwands für die Sozialhilfe. Durch die "verdeckt Armen" spart die öffentliche Hand dagegen rund 4,48 Milliarden DM. Durch Steuermissbrauch gehen dem Gemeinwesen jährlich rund 140 Milliarden DM verloren. Kaum noch öffentlich erörtert wird, dass es Menschen gibt, die ihnen zustehende Sozialleistungen nicht in Anspruch nehmen. Weitere Auskünfte: Ruth Keseberg-Alt, Caritas, (0 30) 8 57 84-2 28 |
Pressemitteilung
"Fehlt Ihnen etwas?"
Erschienen am:
28.06.2000
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